Ein Gastbeitrag – geschrieben von Marc
Natürlich wussten meine Eltern und besten Freunde schon seit Jahren von der Krankheit. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich davor gefürchtet hatte, Ihnen diese Schreckensnachricht zu überbringen. Hatte ich nicht selbst mehrere Wochen gebraucht, um die Diagnose zu verdauen? Und nun sollte ich den gleichen Schock nochmal erleben, nur eben in den Gesichtern meiner Liebsten? Aber es half ja nichts. Irgendwann musste ich Ihnen alles erzählen und das tat ich dann auch.
Danach kehrte wieder Ruhe ein. Zwar war es mit dem Joggen vorbei, aber selbst längere Wanderungen waren noch möglich, und so rückte die MS nach und nach an den Rand meines Bewusstseins. Wegen des progredienten Verlaufs blieb ich von Schüben verschont und mein unmittelbarster Kontakt mit der MS waren die vierteljährlichen Kontrolluntersuchungen. Äußerlich merkte man mir nichts an, weder körperlich noch stimmungsmäßig. Deshalb bestand für mich auch keine Notwendigkeit, den Kreis der „Eingeweihten“ zu vergrößern. Über Jahre wusste nur eine Hand voll Menschen von der tickenden Zeitbombe in mir.
Etwa 2011 begann sich das zu ändern. Meine maximale Laufstrecke hatte sich mittlerweile auf fünf bis sechs Kilometer reduziert. Für die „Außenwirkung“ einschneidender war jedoch ein anderer Umstand: Hatte ich längere Zeit gesessen, brauchte ich nun einige Schritte Anlauf, um wieder rund zu gehen. Das fiel auf und die Legenden-Phase begann! Denn natürlich stellten Kollegen oder Bekannte nun Fragen. Mal spöttisch („na, Du wirst auch nicht jünger“), mal besorgt („hast Du auch Rückenschmerzen?“). Schnell stellte ich mich auf die neue Situation ein und entwickelte eine Art Erklärungskatalog, mit dessen Hilfe ich den meisten Nachfragen glaubhaft begegnen konnte. Hüfte und Knie-Arthrose eigneten sich, wegen ihrer Langwierigkeit, als Erklärung für Kollegen und Dauer-Bekannte. Für flüchtige Begegnungen genügten schon mal eine Prellung oder der Rücken.
Neben der tatsächlichen körperlichen Einschränkung musste ich noch eine zweite Erfahrung machen: plötzlich war die MS da! In meinem Kopf. Nicht als Entzündungsherd, aber als Gedanke, der sich nicht mehr so leicht abschütteln ließ.
Die Legenden-Phase dauerte vielleicht drei Jahre. So lange passten mein Gesundheitszustand und die Geschichten darüber einigermaßen zusammen. Aber ich merkte, dass es mühsamer wurde, den kurzen Fußweg zum Restaurant abzubügeln („keine Lust heute“) oder den Arztbesuch trotz permanentem Hinkebein zu verweigern („wird schon wieder“). Alles in allem eine blöde Zeit. Einerseits drängte die Krankheit mehr und mehr in den Vordergrund, was mir auch einfach Angst machte. Andererseits war es immer anstrengender, gegenüber anderen die Fassade zu wahren, und alle Gebrechen wegzulächeln.
Was letztlich zu dem Strategiewechsel führte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht die besorgten Gesichter, die meine Erklärungen nicht mehr zu glauben schienen? Oder weil mir die ständigen Ausreden zu kompliziert wurden? Oder einfach, weil es mir zunehmend egal war, was ich anderen zumute, je beschissener es mir selbst ging? Jedenfalls begann ich irgendwann, den Kreis der Eingeweihten zu vergrößern. Wie ein Stein, den man ins Wasser wirft, und dessen Wellen sich langsam immer weiter ausbreiten. Ich nahm Kollegen zur Seite und sagte, ich habe MS. Ich erzählte es den Nachbarn und dem Mann, den ich häufig beim Spaziergang mit unserem Hund treffe. Selbst dem Rentner im Fitnessstudio, der fragte, ob ich auch mit dem Ischias zu kämpfen hätte. Aber ich sagte es immer mit einem Lächeln. Denn weder sollte sich der andere schlecht fühlen, noch war ich selbst deprimiert. Im Gegenteil: ich fühlte mich unendlich erleichtert! Keine Legenden mehr, keine anschließenden Behandlungs- oder Ärztetipps, keine Stories von eigenen Arthrose-, Hüft- oder Knieproblemen. Einfach das Kind beim Namen nennen dürfen – und gut ist. Klar tut es den Leuten dann leid und alle zeigen Mitgefühl. Das ist ja auch etwas sehr Nettes, Menschliches. Aber wenn ich Ihnen dann versichere, dass jeder im Leben seinen Sack zu tragen hat, egal wo man hinguckt, und dass die MS eben mein Sack ist, dann nicken die Meisten schon wieder mit dem Kopf, und manche lächeln sogar und klopfen mir auf die Schulter. Überhaupt können die allermeisten Leute mit der Wahrheit, so ernüchternd sie zunächst ist, sehr viel besser umgehen als mit der vorherigen Ungewissheit.
Seit ich viel offener mit meiner Krankheit bin, geht es mir besser. Nicht körperlich, aber insgesamt. Ein Leben mit MS ist kompliziert genug. Ich versuche für mich, die Komplexität zu reduzieren – wo es geht und wo es passt. Dazu gehörte irgendwann auch der Stock. Er unterstützt mich beim Gehen und signalisiert allen anderen: „Aha, der Typ schwankt nicht, weil er morgens um zehn schon besoffen ist, sondern weil er irgendwas mit den Beinen hat“…
hast du ähnliche Erfahrungen? Schreib sehr gern einen Kommentar
Hallo lieber Marc,
vielen Dank für deinen Gastbeitrag! Es freut mich, dass du deine Gefühle und Gedanken aufgeschrieben hast. Zu einem Thema, das sicherlich viele durchleben müssen.
Solch einen Legenden-Katalog hatte ich auch. Ich bin beim Skifahren gestürzt, bin mit dem Fuß umgeknickt, hatte einen Radunfall und hatte Rücken (leider hatte und habe ich wirklich Rücken). Ab dem Zeitpunkt, und das ist genau wie bei dir, als ich angefangen habe zu erzählen was ich habe und warum ich nicht mehr so gut laufen kann, ab diesem Zeitpunkt habe ich mich richtig befreit gefühlt.
Es tut verdammt gut, wenn ich lese, dass Andere mit dieser Erkrankung ähnliche Erfahrungen und Veränderungen durchgemacht haben.
Nochmals vielen Dank für deine Zeilen. Vielleicht war es nicht dein letzter Gastbeitrag, ich würde mich freuen 🙂